SAVE THE DATE:
9. Buchfestival Olten
30. Oktober bis 02. November 2025
Gewinner vom Schreibwettbewerb 2024
Öffentlichkeit:
Platz 1: Fünf vor zwölf: Marc
Platz 2: Wo ist Peter?: Caroline
Platz 3: Dieses verdammte Pfeifen: Stefan
Superpreis:
Fünf vor zwölf: Marc
BBZ Olten:
Platz 1: Der verlorene Schlüssel: Valerion
Platz 2: Hätte: Selina
Platz 3: Breathing: Aleyna
Kantonsschule Olten:
Platz 1: Multumesc: Anja
Platz 2: Der rote Anker und die orangefarbene Begegnung: Malin
Platz 3: Das farbige Nichts: Sarah
FHNW:
Einzelpreis: Déjà-vu: Nadia
Supertext 2024:
Fünf vor zwölf (Marc)
Manchmal stelle ich mir vor, was die Leute in diesen Schliessfächern am Bahnhof wohl deponieren. Etwas, was ihnen lästig ist, was sie, mindestens für einen Tag oder zwei, loswerden wollen, von dem sie aber auf längere Sicht doch nicht ganz lassen können oder wollen.
Die Frau mit der Lederjacke schliesst vielleicht ihre Aufdringlichkeit ein, oben rechts in ein rotes Fach, ein Kantischüler kurz darauf seine Antriebslosigkeit schräg darunter. Eine Angestellte packt ihre Verträumtheit in die gelbe 007, ein Vater seine Kontrollsucht in eines der grossen Schliessfächer in der unteren Reihe. Eine junge Informatikerin steckt verstohlen ihre Schüchternheit in ein Fach ganz am Rand, ein Chauffeur seine Aggressionen in die orange 011, ein Ausgemusterter verschliesst seine Unordentlichkeit, ein Geschäftsinhaber seine Oberflächlichkeit, eine Alte ihren Ordnungsfimmel.
Und dann käme da noch einer vorbei, der seit jeher überall immer wieder vorbeikommt, eine graue Gestalt mit einem Rucksack voller Krieg, Gewalt, Hunger, Gewinnsucht, Neid und Hass. Er trägt Kopfhörer, am liebsten würde er sich auch noch die Augen verschliessen, um nicht sehen zu müssen, was er anrichtet auf der Welt. Als einer nach dem anderen sein Fach schliesst und erleichtert davoneilt, denkt er, eigentlich könnte auch er seine Last für eine Weile ablegen. Die 013 in der oberen Reihe ist noch frei.
Als erstes kommen nach zwei Tagen die Frau mit der Lederjacke und die junge Informatikerin. Wie sie so nebeneinander ihre Fächer öffnen, fragt die Aufdringliche plötzlich, ob sie nicht tauschen wollten, und die andere nickt schüchtern. Bald gehen sie wieder davon, die Aufdringliche diskret und die Schüchterne selbstbewusst.
Also beordern wir die anderen doch auch her! Schlagen eine Art Tauschbörse vor, und siehe da: Der Schüler gäbe sein Sensorium dem Geschäftsmann, dieser seine Gelassenheit dem Kontrollfreak, die Träumerin wäre dankbar für etwas mehr Selbstdisziplin, die Alte bekäme Fantasie und Lebensfreude, ihre Strukturiertheit brächte den Ausgemusterten wieder hoch, der dafür dem Aggressiven seine Entspanntheit überliesse, dieser gäbe seine überschüssige Energie wiederum dem abgelöschten Schüler, und so wären am Ende alle überrascht und zufrieden und alle Fächer stünden wieder offen. Bis auf eines, die Nummer 013 in der obersten Reihe.
Der Graue sitzt, seit Ewigkeiten zum ersten Mal von seiner Last befreit, in der Taverne zum Kreuz, trinkt eine Stange, schaut zu, wie sich die Welt dreht. Vergisst die Zeit.
Die Welt könnte zu einem guten Ort werden.
Wenn nicht ein beflissener SBB-Angestellter nach exakt 96 Stunden das überfällige Fach öffnet.
Das ist – in fünf Minuten!!!
Kommentar zum Supertext 2024
«Fünf vor zwölf» von Marc Späni - Sieger in den Kategorien «Öffentlichkeit» und unser «Supertext» 2024
Auch dieses Jahr haben wir wieder einen «Supertext». Dabei handelt es sich um den besten Text der Kategorie «Öffentlichkeit» aus der Feder von Marc Späni aus Otelfingen.
In seinem souveränen und pfiffigen Text «Fünf vor zwölf» malt der Autor auf wenigen Zeilen ein kleines, aber durchaus präzises Gesellschaftsbild mit einer ernüchternden Pointe. Die Grundidee ist originell: Was würden Leute in Bahnhofsschliessfächern deponieren, wenn man in diesen keine Gegenstände, sondern Charaktereigenschaften «deponieren» könnte? Nur vorübergehend selbstverständlich. Würde die Welt zu einem besseren Ort?
Mit diesen und weiteren Fragen setzt sich Marc Späni inhaltlich überzeugend und sprachlich gelungen auseinander. «Fünf vor zwölf» ist ein sowohl spannender als auch hintergründig gewobener Text, der uns dazu einlädt, hinter die Fassaden des Alltäglichen zu schauen.